Dienstag, 30. Mai 2006

Märchen

MÄRCHEN: Hintergrund und praktische Anwendung in der Grundschule

1. Name und Begriff

Die Begriffe „Märchen“ und „Märlein“ sind Verkleinerungsformen zu „Mär“. Dieses Wort wurde von dem mittelhochdeutschen Begriff „maere“ abgeleitet und ist mit Kunde, Bericht, Erzählung, Nachricht oder Gerücht zu übersetzen. Demnach bezeichneten Märchen ursprünglich eine kurze Erzählung.
Unter Märchen versteht man im Allgemeinen eine Gattung phantastisch-wunderbarer Erzählungen die besonders für Kinder geeignet sind.
Irreale Gestalten und wunderbare Begebenheiten gelten als bestimmende Elemente der Handlung, wobei Naturgesetze wie historisch-soziale Determinanten weitgehend aufgehoben werden.
Echte Märchen beruhen auf einer mündlichen Erzähltradition und sind demnach keinem bestimmten oder ursprünglichen Verfasser zuzuordnen. In jeder Gruppe, in der Märchen mündlich überliefert werden, sammelt sich ein bestimmter kollektiver Fundus von Märchen bzw. Volkserzählungen an, welcher durch den jeweiligen Erzähler auf seine eigene Art und Weise weitergegeben wird.
Märchen dienten früher jedoch nicht nur der Unterhaltung, sondern auch der Lebensbewältigung, Identifikationsobjekt, Wunschdichtung oder Konfliktlösung. Es ist dadurch nur verständlich, dass märchen- und sagenhafte Erzählungen besonders in der Unterschicht als Unterhaltungsstoff und Aufheiterung für das alltägliche Leben verbreitet waren.
Grundsätzlich unterscheidet man Volksmärchen und Kunstmärchen. Jede Nationalliteratur weist sowohl Volksmärchen als auch Kunstmärchen auf. Darüber hinaus lässt sich auch nach verschiedenen Form- und Inhaltskriterien unter anderem zwischen Schwank-, Legenden-, Zauber-, Tier- und Novellenmärchen unterscheiden.
Im Deutschen wird der Begriff Märchen besonders durch die Volksmärchen-Version der Sammlung „Kinder- und Hausmärchen“ der Brüder Grimm bestimmt. Diese Sammlung enthält allerdings auch Geschichten, die bei genauerer Betrachtung keine Märchen, sondern Fabeln, Legenden oder Schwänke sind.


Während das Märchen noch im 18. Jahrhundert der Unterhaltung und der Belehrung der ganzen Familie diente, so steht der Begriff heute im populären Sprachgebrauch für die für Kinder geeignete fiktionale Literatur im Allgemeinen. Zu diesen zählen z.B. auch Gullivers Reisen, Pippi Langstrumpf und Micky Maus.


2. Geschichtliche Entwicklung

2.1 Alter und Herkunft des Märchens

„Gab es Märchen im engeren oder im weiteren Sinn schon in vorgeschichtlicher Zeit? Darüber sind nur Vermutungen möglich, sie gehören nicht zur Geschichte, sondern zur Theorie des Märchens. In der Literatur des Altertums hingegen finden sich Spuren des Märchens.“
Selbst die Märchenforschung kann dem Märchen kein eindeutiges Alter und keine exakte Herkunft zuordnen. Die Vermutungen der Märchenforscher reichen von der Steinzeit bis hin zum Spätmittelalter und von Ursprüngen in Indien, Babylon oder Kreta bis nach Ägypten. Die Vertreter der Völkerpsychologie hingegen erheben den Anspruch, dass Märchen zwangsläufig und überall entstünden, sobald sich die Menschen eine magische Naturvorstellung, welche einer niedrigen Kulturstufe entspricht, aneignen.
Obwohl sich demnach der genaue Beginn der Geschichte des Märchens nicht feststellen lässt, so existieren jedoch aus dem alten Ägypten erhaltene Schriftstücke mit Erzählungen, die zumindest einen märchenhaften Ablauf und die in Märchen häufig vorkommende Motive aufweisen. Diese Spuren eines Märchens sind z. B. in der 1250 v. Chr. aufgeschriebenen Geschichte der beiden Brüder „Anup“ und „Bata“ wieder zu finden. Die Hindernisflucht, warnende Tiere, Unheil prophezeiende Frauen, das Todeszeichen, das Lebenswasser oder das verborgene Leben zählen heute noch zu den beliebten Motiven der Volksmärchen.
Hierzu fügt Max Lüthi an, dass solche Anklänge jedoch kein Beweis sind, dass das Volksmärchen im engeren Sinn bereits im alten Ägypten existierte. Die auf Papyrus verfassten Geschichten seien kein tatsächliches Volksmärchen, sondern waren für die Schicht der Gebildeten bestimmt. Die Geschichte der Brüder Anup und Bata entspräche eher einem Pharaonenmythos, da die Namen der beiden Bauern von der hundsköpfigen Göttin Anubis und des stierköpfigen Gottes Bata abzuleiten sind.
Während man bis hin zur überlieferten Literatur aus dem Mittelalter nur sagen kann, dass sie lediglich märchenhafte Elemente enthält, so offenbaren sich die Hinweise auf existierende Volksmärchen erst im 16. Jahrhundert zusätzlich durch immer häufiger auftretende Märchennamen. Z.B. erscheinen erstmalig Titel wie „Aschengrüdel“ und andere Anspielungen auf das „Aschenbrödel“.
Als Hauptereignis in der Geschichte des Märchens ist allerdings das Erscheinen der Sammlung „Ergötzlichen Nächten“ („Le piacevoli notti“, Venedig 1550 und 1553) von Giovan Francesco Straparolas im 16. Jh. zu nennen. Diese Sammlung enthält 73 Erzählungen, welche überwiegend aus mündlichen Überlieferungen stammen und von denen 21 als Märchen bezeichnet werden können. Einige Beispiele aus diesem Gesamtwerk sind die Geschichten vom Zauberlehrling, vom Drachentöter, vom dankbaren Toten oder die Geschichte vom Tierprinzen.




2.2 Erste Zeugnisse des Märchens in Deutschland

Ein frühes Zeugnis für das Märchen in Deutschland ist die Erzählung vom Bärenhäuter aus dem 17. Jh., die in Grimmelshausens „Simplicianischen Schriften“ (ca. 1668) zu finden ist und als Zaubermärchen klassifiziert werden kann.
Die Geschichte des Märchens wird im 18. Jh. in Deutschland vor allem durch die Autoren C.M. Wieland und J.K.A. Musäus vorangetrieben.
„Im Jahrhundert der Aufklärung waren Feengeschichten, die sich öfters ironisch über sich selber lustig machten, und orientalische Märchen, für welche man sich aus kultureller Wissbegierde interessieren durfte, Mittel, das geheime Bedürfnis nach Wunderbarem und Phantastischem zu befriedigen und doch zugleich den skeptischen, spöttischen, spielfreudigen Verstand auf seine Rechnung kommen zu lassen. Beide Elemente sind noch in Wielands Märchen und Feengeschichten („Die Abenteuer des Don Sylvio von Rosalva“, „Idris und Zenide“, „Pervonte oder die Wünsche“, „Oberon“ u.a.) wirksam. Von Abneigung gegen die ganze „Feerei“ erfüllt, greift der Weimarer Pagenhofmeister und Gymnasialprofessor Johann Karl August Musäus (1735-1787) auf die mündliche Überlieferung, die sich in einigen seiner „Volksmärchen der Deutschen“ (1782/86) durch das idyllisierende und satirisierende, breit ausladende Gewand hindurch deutlich genug bemerkbar macht; so in „Die drei Schwestern“, der Geschichte von den Tierschwägern, die sogar von Musäus aus ins Volk zurückgewandert ist.“
Das Märchen wurde mit der Zeit auch zunehmend als didaktisches Mittel zur Exemplifizierung biblischer bzw. religiös-moralischer Sachverhalte in der Kirche eingesetzt. Auf diese Weise wurde das Märchen, als Diminutiv, zum Begriff für eine fiktive, jeden Wahrheitsgehalt entbehrende Erzählung.
Als Konsequenz dieser Entwicklung sprachen sich vor allem die Aufklärer gegen das Märchen aus. So schreibt Wieland 1786 in der Vorrede zu „Dschinistan“: „Ammenmärchen, im Ammenton erzählt, mögen sich durch mündliche Überlieferung fortpflanzen, aber gedruckt müssen sie nicht werden.“
Die Brüder Grimm sind dafür verantwortlich, dass das lange Zeit von den Aufklärern verachtete Volksmärchen im 19. Jahrhundert buchfähig wurde. Mit der Sammlung „Kinder- und Hausmärchen „ der Brüder Grimm stieg das Märchen aus der Kinder- und Gesindestube ins gedruckte Hausbuch auf. Nach diesem Vorbild wurden Volksmärchen bald auch in anderen Ländern aufgezeichnet und veröffentlicht. Dies bedeutete jedoch zugleich dass das gedruckte Märchen immer mehr an die Stelle des von Generation zu Generation, von Erzähler zu Erzähler mündlich überlieferten Märchen trat.

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2.3 Die Auswirkung der Brüder Grimm auf die Geschichte des Märchens

Leben und Werk der Brüder Jakob (1785-1863) und Wilhelm (1786-1859) Grimm stehen in einem engen Zusammenhang. Schon während ihres Jurastudiums interessierten sich beide für mittelhochdeutsche und althochdeutsche Literatur und arbeiteten zunächst als Bibliothekare. Beide erlangten später den Titel „Professor für Altertumswissenschaft“.
Ihr wohl bekanntestes gemeinsames Werk ist die Sammlung „Kinder- und Hausmärchen“
(2 Bände, 1812/1815). Die Sprachhistoriker und Märchen- und Sagenforscher Grimm sammelten und veröffentlichten Märchen erstmals und gaben damit dem deutschen Volksmärchen ein Bild, welches bis heute die Gattung bestimmt.
Der Anfang der Sammeltätigkeit der Brüder Grimm ist im Zusammenhang mit den Bestrebungen der Romantik zusehen, die Herders Gedanken über „Natur-„ und „Volkspoesie“ aufgenommen hatte. Dies hatte zur Folge, dass Volkspoesie in absehbarer Zeit zur „Nationalpoesie“ wurde und die Werke der Brüder Grimm eine starke ideologisch-politische Wirkung in Bezug auf den Gedanken einer einheitlichen deutschen Nation nach sich zogen. Der gesellschaftlich-politische „Erwartungsraum“ der dadurch aufkam, wurde von den Brüdern Grimm mit ihren „nationalen Märchen- und Sageneditionen“ und besonders mit der „Deutschen Mythologie“ von 1835 ausgefüllt.
Während Jacob Grimm zum größten Teil die Arbeit der Sammeltätigkeit und Materialaufnahme übernahm, lag der Hauptanteil der Arbeit an Wilhelm Grimm, der die endgültige Textfassung erstellte und als eigentlicher Erfinder der Märchensprache gilt.
In der Vorrede zu ihren Märchen formulierten die Brüder den Grund und die Absicht der Veröffentlichung der Sammlung „Kinder- und Hausmärchen“: „…Darum geht innerlich durch diese Dichtungen jene Reinheit, um derentwillen Kinder so wunderbar und selig erscheinen: Sie haben gleichsam dieselben blaulichweißen makellosen und glänzenden Augen, die nicht mehr wachsen können, während die anderen Glieder noch zart, schwach und zum Dienste der Erde ungeschickt sind. Das ist der Grund, warum wir durch unsere Sammlung nicht bloß der Geschichte der Poesie und Mythologie einen Dienst erweisen wollten, sondern es zugleich Absicht war, dass die Poesie selbst, die darin lebendig ist, wirke und erfreue, wen sie erfreuen kann, also auch, dass es als ein Erziehungsbuch diene. Wir suchen für ein solches nicht jene Reinheit, die durch ängstliches Ausscheiden dessen, was Bezug auf gewisse Zustände und Verhältnisse hat, wie sie täglich vorkommen und auf keine Weise verborgen bleiben können, erlangt wird und wobei man zugleich in der Täuschung ist, dass was in einem gedruckten Buche ausführbar, es auch im wirklichen Leben sei. Wir suchen die Reinheit in der Wahrheit einer geraden, nichts Unrechtes im Rückhalt bergenden Erzählung. Dabei haben wir jeden für das Kinderalter nicht passenden Ausdruck in dieser neuen Auflage sorgfältig gelöscht.“
Einige Beispiele der in den KHM veröffentlichten Märchen sind Hänsel und Gretel, Dornröschen, Das tapfere Schneiderlein, Rumpelstilzchen u.v.m.

Auf die Brüder Grimm geht das Missverständnis zurück, dass Märchenerzählen eine Sache für Kinder sei, bzw. für Großmütter, die „Kinder- und Hausmärchen“ mündlich überlieferten. Tatsächlich ist es aber der Fall, dass Märchenerzählen bis ins 20. Jahrhundert hinein überwiegend die Angelegenheit der Erwachsenen war. Ein guter Erzähler hatte sowohl Märchen als auch Memorate, Fabulate und Schwänke in seinem Repertoire, deren Inhalte auch durchaus sehr obszön sein konnten.
Die Brüder Grimm sind außerdem dafür verantwortlich, dass das Märchen von der Erwachsenenliteratur zur Kinderlektüre wurde. Sie verwandelten traditionelle Unterhaltungen der unteren Schichten einer überwiegend ländlichen Bevölkerung zu Kindermärchen des bürgerlichen Stadthauses.
Dieser Wechsel der Rezeptions- und Kommunikationsphäre bedeutet nicht nur einen Wandel der sozialen Schicht, sondern auch einen Funktions- und Formenwechsel. So konnten die Volksmärchen zu den Kindermärchen werden, deren Erfolg auch heute noch anhält.
Wilhelm Grimm ersetzte das Präsens durch erzählendes Imperfekt, fügte archaisierende Wendungen ein, ersetzte indirekte durch direkte Rede und führte volkstümliche Doppelausdrücke und Gefühlswörter ein.
Auf diese Weise wurde der Typus des „Buchmärchens“ hervorgerufen. „Buchmärchen“ zeichnen sich durch eine homogene Textgestalt aus, die durch Motivkombinationen, Kontaminationen (Vermischungen) einzelner Märchentypen und Eliminierung von sozialkritischen und erotischen Elementen geschaffen wird.
Trotz der Tatsache, dass die Brüder Grimm in ihrer Vorrede von 1819 beteuerten, dass es ihnen „zuerst auf Treue und Wahrheit angekommen“ sei und sie „aus eigenen Mitteln nichts hinzugesetzt“ hätten, handelt es sich bei ihren Texten aus wissenschaftlicher Sicht keinesfalls um philologisch authentische Texte. Erst die romantisierenden, kindertümelnden stilistischen Eingriffe haben den literarischen Erfolg der Märchen der Brüder Grimm hervorgerufen und sie zum Kinderbuch werden lassen.

Diese Art von Märchen hat auch Zutritt in Schulbücher gefunden. Die bürgerliche Ethik und ihre Moralvorstellungen sollten die Phantasie des Kindes in die gewünschte Richtung lenken.
Die niedergeschriebene Fassung der Märchen zog dem hinzu nach sich, dass das einzelne Märchen, im Gegensatz zu den mündlich überlieferten Erzählungen, nicht mehr durch den Erzähler verändert und der jeweiligen Gruppenkultur angepasst werden konnte. Das Märchen gewann auf diesem Weg zunehmend Abstand von der Lebensrealität der Erzähler und Zuhörer und erstarrte zur Wundererzählung.


3. Abgrenzung gegen benachbarte Gattungen

Im Rahmen des Referats zum Thema „Epische Kleinformen im Bilderbuch“ vom 16.12.2003 wurden neben dem Märchen auch die Gattungen Fabel, Sage und Mythos behandelt. Ich möchte daher auf die Ausarbeitungen meiner Kommilitoninnen Frau Langhammer, Frau Wörle und Frau Geißendörfer verweisen.


4. Typologie des Märchens

Die Brüder Grimm bewirkten, dass die Volkserzählungen zum Gegenstand wissenschaftlicher Betrachtungen und Märchen und Sagen zu den Gattungsbezeichnungen wurden wie man sie heute kennt. Den Brüdern Grimm gelang es, die von den Aufklärern verachtet gewesene Gattung aufzuwerten und sie in ihren „Kinder- und Hausmärchen“ (KHM) besonders im Bildungsbürgertum, aber auch in der breiten Öffentlichkeit zu etablieren. Um dies erreichen zu können spielten vor allem die literarisch-ästethetischen Bewertungen zu jeder Zeit eine bedeutende Rolle.
Forscher machen sich die große Anzahl von Definitionen und Wesensbestimmungen der Märchen und Sagen zu Eigen, die nicht nur den jeweiligen Stand der Forschung wiedergeben, sondern auch die Intentionen und das Forschungsinteresse des einzelnen aufzeigen. Aus diesem Grund werden vielfach nur Teilaspekte in den Vordergrund gerückt.
Einer der kompetentesten und berühmtesten Märchenforscher ist Max Lüthi. Er charaktisiert das Märchen als „welthaltige Abenteuererzählung von raffender, sublimierender Stilgestalt“.
Konstituierende Merkmale des Märchens sind, dass es über längere Zeitspannen mündlich tradiert wird und dass es sich mit der Zeit verändert und sich Varianten entwickeln.
Stilistisch wird das Mädchen durch formelhafte Wendungen, direkte Rede und Verse, einen paradiktischen Satzbau und das Happy End geprägt. Das zuletzt genannte stilistische Mittel verbindet das Märchen mit der Trivialliteratur.

Nach Inhalt unterscheidet man Lügenmärchen, Schwankmärchen, Zaubermärchen, Tiermärchen, ätiologische (erklärende) Märchen und Legendenmärchen.
Betrachtet man die formalen Kriterien, so lassen sich Kettenmärchen, in denen sich dasselbe Motiv mehrmals wiederholt und Konglomeratmärchen, die aus losen Kompositionen bestehen und Novellen- bzw. Parabelmärchen unterscheiden.


5. Charakteristische Merkmale des Märchens

5.1 Der Begriff „Europäisches Volksmärchen“

Ein Vergleich der im Laufe der letzten Jahrhunderte entstandenen Märchen hat ergeben, dass den europäischen Volksmärchen abgesehen von den zeitlichen, nationalen und individuellen Verschiedenheiten einige gemeinsame Wesenszüge zuzuordnen sind. Man spricht daher von einem Grundtyp des europäischen Volksmärchens. Dieser Grundtyp, oder auch Idealtyp, charakterisiert sich durch die Neigung zu einem bestimmten Personal, Handlungsablauf und eine bestimmte Darstellungsart. Die Stilgesetze die Lüthi geprägt hat, sind aus der Abgrenzung des Märchens zur Sage entstanden.


5.2 Darstellungsart

Ein erstes Erkennungsmerkmal des europäischen Volksmärchens ist die Eindimensionalität. Diese bringt mit sich, dass das Diesseits und das Jenseits nicht wie in der Sage unterschieden werden, sondern in einer Dimension vereinigt sind. Das Märchen wird dadurch mit einer anderen Welt, dem Numinosen, in Verbindung gebracht. Ein weiterer Unterschied zur Sage ist, dass die Begegnung mit Figuren einer anderen Welt für den Helden eines Märchens keinesfalls beunruhigend ist, da er sich im Jenseits mit der gleichen Selbstverständlichkeit wie im Diesseits bewegt und folglich keine Furcht vor Toten oder dämonischen Wesen aufzeigt.

Die Flächenhaftigkeit ist ein anderes Kennzeichen, an dem man Märchen erkennen kann. Unter diesem Begriff versteht man, dass die im Märchen agierenden Figuren keine Körperlichkeit und auch keine Innenwelt aufweisen und dem weiteren auch ihre Umwelt nicht dargestellt wird. Die Figuren weisen scharfe Konturen auf und besitzen keine Tiefengliederung. Dass die Figuren wie eine Silhouette auf den Betrachter wirken, steht in Verbindung damit, dass im Märchen Handlungen und Dinge nur benannt und nicht ausführlich geschildert werden. Auch die Mineralisierung und die Metallisierung (z.B.Glasberg, kupfernes Männlein, goldene Äpfel) von Dingen und Figuren tragen zu diesem abstrakten Stil des Märchens bei.

Als weiteres Merkmal für das Märchen ist die Formelhaftigkeit zu nennen. Dieses Kennzeichen ist auch in der Epik wieder zu finden. Der Erzähler vereinfacht sich die Weitergaben seiner Erzählungen durch Formeln wie z.B. „Es war einmal“ und formelhafte Wendungen wie „Milch und Blut“.
Als Voraussetzung für das Märchen ist auch die Isolation von Figuren und Gegenständen zu erwähnen, durch welche der Held die Gelegenheit erhält, alle möglichen Bindungen einzugehen. So steht die unsichtbare Allverbundenheit des Helden des Märchens seiner sichtbaren Isolation gegenüber, was ein problemloses Zusammenspiel verschiedenster Figuren und Handlungsepisoden zulässt.
Die Züge der Märchenfiguren sind abstrakt und transparent, da sie ohne jegliche Individualität sind. Da dies auch bei den mythischen, magischen, profanen und numinosen Motiven bzw. Elementen wieder zu finden ist, werden sie Gemeinschaftsmotive genannt. Durch Sublimation und Entleerung werden sie zu formalen Elementen umgewandelt.
Das Märchen ist in der Lage sich die heterogensten Dinge und Motive anzueignen, indem es Handlungen und Motive sublimiert.
Die Stilmerkmale Lüthis müssen nicht beziehungslos stehen, sondern können mehrfach in Verbindung gesetzt werden. So bedingt die Eindimensionalität Sublimation und Isolation während die Flächenhaftigkeit eine Komponente des abstrakten Stils darstellt.


5.3 Handlungsverlauf

Das europäische Märchen geht immer von einer Schwierigkeit aus, die bewältigt werden muss. Die Kernthemen sind daher Kampf und Sieg bzw. Aufgabe und Lösung.
Hinter diesem Schema stehen immer eine menschliche Erwartung und dessen Erfüllung, die als „Happy End“ das wichtigste Charakteristikum des Märchens darstellt.
Die Ausgangslage der Handlung zeichnet sich durch einen Mangel oder durch eine Notlage, eine Aufgabe, ein Bedürfnis oder andere Schwierigkeiten aus. Im Froschkönig z.B. entspricht dies der Situation in der die goldene Kugel der Prinzessin in den Brunnen fällt und das Mädchen sie alleine nicht herausholen kann.
Eine weitere Gemeinsamkeit der europäischen Märchen ist ihre Neigung zur Zweiteiligkeit. Der Lösung der Aufgabe bzw. der Bewältigung des Kampfes folgt eine neue Notlage die vom Held oder der Heldin bewältigt werden muss oder aus der sie oder er gerettet werden muss. So hat die Prinzessin im Märchen der Brüder Grimm zwar ihren goldenen Ball wieder, muss nun allerdings ihr dafür gegebenes Versprechen einlösen und den Frosch zu ihrem ständigen Begleiter und Gesellen machen.
Das weiteren neigt das Märchen zur Darstellung der Handlung in drei Zügen. Währen z.B in anderen Märchen drei Brüder nacheinander Aufgaben erledigen müssen oder der Held bzw. die Heldin drei Arbeiten verrichten muss, so sind es im Froschkönig die drei eisernen Banden die sich der treue Heinrich um sein Herz legen lies, als sein Prinz in einen Frosch verwandelt wurde und die sich bei dem Wiedersehen mit dem Prinzen nacheinander lösen.


5.4 Die Figuren des Märchens

Die Hauptfiguren im Märchen sind immer der Held oder die Heldin, die grundsätzlich der menschlich-diesseitigen Welt angehören. Auch wenn wie im Froschkönig zu Beginn des Märchens der Anschein erweckt wird, dass die Hauptfigur ein Tier ist, so kann dieser im Allgemeinen von seiner Tiergestalt erlöst werden.
Weitere für das europäische Volksmärchen charakteristische Figuren sind Helfer des Helden, Auftraggeber, Kontrastgestalten, Neider oder auch falsche Helden und die vom Helden oder der Heldin gerettete, befreite oder erlöste Person. Alle wichtigen Personen beziehen sich also auf den Helden, während Gegner und Helfer oft einer außermenschlichen Welt angehören.
Die Personen und Dinge des Märchens sind normalerweise nicht individuell gezeichnet. Schon die beliebten Namen Hans, Jean und Iwan, die seit dem Mittelalter zu den häufigsten Personennamen in Europa zählten, weisen darauf hin, dass der Held des Märchens weder eine Persönlichkeit noch ein Typus, sondern eine allgemeine Figur ist. Der Name Iwan steht im Allgemeinen für einen Russen, während der deutsche Name Hans fast schon zum Gattungsnamen geworden ist (Großhans, Schnarchhans, Schmalhans).
Den meisten Personen wird im Märchen allerdings überhaupt kein Name zugeteilt und werden einfach als Königin, Stiefmutter, Schwester, Soldat, Schmied, etc. benannt. Im Märchen „Der Froschkönig“ besitz weder der Frosch, noch die Prinzessin einen Namen. Der einzige auftretende Name ist hier der des eisernen Hans.
Die Figuren scheiden sich im Märchen scharf in Kontraste wie gut und böse, schön und hässlich, groß und klein, vornehm und niedrig. In „Der Froschkönig“ wird die Prinzessin als wunderschön und der Frosch als hässlich und garstig beschrieben. Wie auch in diesem Märchen ist es jedoch durchaus möglich, dass sich eine hässliche Gestalt, wie z.B. der Frosch, in eine schöne Person, wie den Prinzen, verwandelt.
Neben den diesseitigen Figuren treten häufig auch Gestalten wie Hexen, Riesen, Zauberer, Feen, Tiere etc. auf, die einer Über- oder Unterwelt angehören.
„…So spiegelt sich nicht nur in den Handlungen, sondern auch in den Gestalten und Dingen des Märchens die Welt. Gestirne, Wolken, Wege, unterirdische Reiche – Mensch, Tier, Pflanze, Mineral, Gebrauchsding – Personen und Requisiten gewöhnlicher und übernatürlicher Art haben ihren festen Platz in den Märchen. Daß an Tieren gerne solche des Wassers, der Erde und der Luft schon in einer einzelnen Erzählung genannt werden und zur Wirkung kommen, ist ein Ausdruck der Neigung des Märchens zur Universalität.“


6. Wirkung und Funktion des Märchens

Das Märchen geht im Sinne der Entwicklungspsychologie auf Prozesse ein, die auf jeden Menschen bzw. Jugendlichen im Laufe seiner Entwicklung zukommen. Die Märchen sind der kindlichen Wirklichkeitserfassung angepasst. Ihre Gemeinsamkeit ist die die Durchmischung des alltäglichen, realen Lebens mit dem Übernatürlichen und Sonderbaren.
Darüber hinaus entsprechen auch die Betonung der Handlung und Aktivität des Helden, die Bildhaftigkeit und die Analogiebildungen bestimmten Phasen der kindlichen Entwicklung. Das Märchen kann demnach dem Heranwachsenden eine Hilfe bei der Erkennung und Bewältigung persönlicher Entwicklungsschwierigkeiten sein.
Diese zuletzt genannte Eigenschaft des Märchens wird zusätzlich durch seine Bildsprache unterstützt. Diese entspricht genauso wie der Absolutheitsanspruch des Märchens, welches nur gut oder böse kennt, der Entwicklung der Kinder- oder Jugendlichen.
Den Kindern wird die Möglichkeit gegeben, ihre Aggressionen und Ängste auf exemplarische Weise, die im Märchen bildhaft konkretisiert wird, bewältigen und überwinden zu können, ohne irgendwelche Bestrafungen fürchten zu müssen.
Durch die im Märchen vorherrschende, abstrakte Darstellungsweise wird auch die „Grausamkeit“ entschärft.

Es darf jedoch nie in Vergessenheit geraden, dass die Märchen in einer patriarchalischen, vorindustriellen und hauptsächlich agrarisch organisierten Zeit entstanden sind.
Die heutige Realität fordert einen großen Spielraum von Entscheidungsmöglichkeiten zwischen Gut und Böse.
Darüber hinaus vermitteln die Märchen häufig veraltete Wertvorstellungen die in unserer Welt in dieser Form nicht mehr zu finden sind und bieten keine Möglichkeiten für eine reale Konfliktlösung an. Es ist demzufolge wichtig, aus den zahlreichen Märchen europäischer und orientalischer Herkunft geeignete Exemplare zu wählen.
„Mehr denn je wird das Märchen, mit seinen scheinbar in jeder Epoche neu ausdeutbaren Symbolgehalt als phantasieanregende Lektüre mit einem gewissen eskapistischen Zug, von den verschiedensten Richtungen rezipiert und in einer ahistorischen Betrachtungsweise interpretiert, ohne zu beachten, dass das Märchen wie alle anderen Gattungen der Volksliteratur (>Sage) in einer konkreten kulturellen und gesellschaftlichen Situation entstanden ist und in einer ebensolchen Situation reproduziert wird.“

In den 70er Jahren kam auf, dass traditionelle Märchen mit zumeist hohem Bekanntheitsgrad bearbeitet und umgedichtet wurden wie z.B. in Janosch erzählt Grimms Märchen (1972 und öfter) oder in Fetschers „Wer hat Dornröschen wachgeküsst?“ (Das Märchenverwirrbuch, 1972).
Darüber hinaus wurden auch neue Märchen geschaffen, in denen Bezug zur Lebensrealität der Kinder und deren Verhältnis zur Erwachsenenwelt genommen wird.
Die Grimmschen Märchen sind trotz allem keineswegs aus den Bücherregalen verschwunden, sondern konnten sich sogar wieder als Lektüre für Erwachsene etablieren.
Märchen werden allerdings mittlerweile nicht mehr ausschließlich als Bücher veröffentlicht und unterliegen den Bedingungen des Marktes. Auch Puppentheater, Rundfunk, Zeichentrickfilm, Tonband, Schalplatte, CD oder das Fernsehen haben sich das Märchen zu Eigen gemacht.


7. Das Märchen in der Grundschule anhand ausgewählter Beispiele

7.1 Betrachtung der kindlichen Entwicklung

Da Kinder im Alter von sechs bis zehn Jahren eine beachtliche Entwicklung durchmachen, betrachten wir sie in zwei Gruppen. Zu der einen Gruppe gehören die ersten und zweiten Klassen und zur anderen die dritten und vierten Klassen.
Vor der Einschulung sind die Kinder das behütete Elternhaus und den umsorgenden Kindergarten gewohnt. In der Schule erwartet sie nun ein neues Umfeld, Pflichten und neue Gewohnheiten. Die Kinder gehen zumeist schon nach kurzer Zeit den Schulweg alleine oder lernen Bezug zu verschiedenen Lehrern und neuen Klassenkameraden zu nehmen. Vielen Kindern fällt dieser Schritt zur Selbstständigkeit leicht. Andere Kinder erleben diesen Schritt mit gemischten Gefühlen oder sogar als schmerzliche Trennung von den Eltern.
Während die Schüler der ersten beiden Klassen fast ausnahmslos für Märchen jeglicher Art zu begeistern sind, fühlen sich einige Kinder der dritten und vierten Klasse schon zu groß dafür. Wenn es dann als Schullektüre jedoch kein Krimi sein darf, dann beanspruchen sie zumindest, dass das Märchen spannend sein muss. Gerade diesen Kindern gefallen die Märchen hinterher besonders. Dem muss allerdings vorausgehen, dass die Lehrkraft ein Märchen auswählt, welches dem Alter der Klasse angemessen ist.








7.2 Das Märchen als didaktisches Mittel

Die Märchen dienen den Kindern zunächst als Orientierungshilfe. In den Märchen begegnen den Zuhörern und Lesern Vorbilder für sinnvolles Handeln und ein erfülltes, erfolgreiches Leben, welches sich bei Kindern im Alter von sechs bis zehn Jahren immer mehr außerhalb des Elternhauses abspielt.
Auch bei der Angstbewältigung erweisen sich Märchen als eine gute Stütze. Den Kindern wird gezeigt, dass nicht nur sie, sondern auch die Helden der Geschichten in Gefahr geraten, Proben bestehen und Probleme bewältigen müssen.
Dem weiteren ist zu beobachten, dass Märchen die Phantasie von Kindern anregen und somit ein Fundament für Entdeckerfreude und schöpferisches Tun geschaffen wird.
Auch vermitteln die Erzählungen den Schülern wichtige Lebensratschläge und schenken Zuversicht.
Nicht zuletzt sollte man als Lehrkraft bedenken, dass man Märchen vielfältig im Unterricht einsetzen sollte um die Kreativität und das musisches Schaffen der Schüler zu fordern und zugleich auch zu fördern. Man kann die Geschichten oder Teile daraus von der Klasse nicht nur nacherzählen oder in Bilder malen lassen, sondern sie auch nachspielen oder tanzen lassen. Diese aktiven, praxis- und handlungsorientierten Umsetzungen der Märchen helfen den Kindern ihre leib-seelischen Qualitäten zu finden.


7.3 Märchen für die erste und zweite Klasse

Für die Sechs- bis Achtjährigen werden Märchen ausgewählt, in denen einmal ein weiblicher Held und einmal ein männlicher Held im Mittelpunkt stehen. Auch wenn heutzutage Mädchen und Jungen weitgehend gleich behandelt und erzogen werden, so weisen sie doch unterschiedliche Verhaltensmuster, Vorlieben und Neigungen auf. Demnach wählen in diesem Alter Mädchen gerne Erzählungen wie das Märchen von Rapunzel aus, in dem der Held weiblich ist. Erstaunlicherweise lassen sich allerdings auch die Jungen gerne für dieses Märchen begeistern und wünschen es sich immer wieder.
Als Lehrkraft oder als Eltern stellt man sich oft die Frage was die Kinder an dem jeweiligen Märchen interessiert. Da die Kinder in diesem Alter das Wesentliche in Worten zumeist noch nicht ausdrücken können ist es effektiver sie dazu anzuregen z.B. Bilder zu der gehörten Erzählung zu malen oder das Märchen in Gruppen und Auszügen nachzuspielen. Aus der Rollenwahl der Kinder und den gemalten Bildern kann man Rückschlüsse ziehen worauf es den Kindern besonders ankommt. Oft äußern sich die Schüler auch verbal über ihre Neigungen, Abneigungen, Freuden und Ängste.

Ein geeignetes Märchen für Kinder im Alter von sechs bis acht Jahren ist zum Beispiel das Rapunzel-Märchen der Brüder Grimm, welches auch in ihrer Sammlung der „Kinder- und Hausmärchen“ unter der Nummer 12 zu finden ist.
Um den Zusammenhang zwischen dem Märchen und dem alltäglichen Leben der Erst- und Zweitklässler besser erörtern zu können sollte eine kurze Inhaltsangabe des Märchens vorausgehen: Ein Ehepaar wünscht sich sehnlichst ein Kind. Während die Frau schwanger ist, verspürt sie Lust auf die Rapunzelpflanzen einer Zauberin. Als der Mann allerdings beim holen dieser Pflanze von der Zauberin erwischt wird, muss er ihr als Strafe das Kind versprechen. Dieses wird, als es nun soweit ist von der Zauberin in einem Turm ohne Türen untergebracht. Die Zauberin kann nur zu dem Mädchen in den Turm gelangen, indem Rapunzel ihr langes Haar durch ein Fenster herabfallen lässt und die Frau an diesem hinaufklettert. Eines Tages beobachtet dies ein junger Prinz, der daraufhin zu Rapunzel in den Turm steigt und ihre Liebe gewinnt. Als dies die Zauberin erfährt, schneidet sie Rapunzels Haar ab und verbannt sie in eine Wüste. Als der Königssohn bei einem erneuten Besuch im Turm, indem er eigentlich Rapunzel vermutet, nur die Zauberin sieht, stürzt er in Dornen und erblindet.
Eines Tages folgt der blinde Prinz einem Gesang und trifft dabei auf Rapunzel. Diese freut sich so sehr den Königssohn zu sehen dass ihre Freudentränen auf seine Augen tropfen. Da erlangt er auf einmal sein Augenlicht zurück und nimmt Rapunzel mit in sein Königsreich.

Im Folgenden soll nun der Bezug zwischen dem Märchen und dem Alltag eines Kindes hergestellt werden.
Eine Erfahrung die jeder Mensch in seinem Leben macht ist, dass er ersehnt, gewünscht und von seinen Eltern liebevoll empfangen und gehalten werden möchte. Dies stellt auch die Anfangssituation im Märchen dar.
Das Kind muss dann allerdings erfahren, dass es versprochen ist und von den Eltern fort muss. Im Grunde gesehen kommt für jedes Kind einmal der Moment ab dem nicht mehr alle seine Wünsche von den Eltern erfüllt werden können. Kinder fühlen sich dann oft wie verbannt und in einen Turm geschlossen.
Rapunzel erhält sich den Kontakt zur Außenwelt durch ihr langes Haar. Für Kinder ist es allgemein oft eine Tragödie wenn ihnen gegen ihren Willen die Haare abgeschnitten werden. Wie die Zauberin im Märchen wollen auch Eltern die ersten Annäherungsversuche zwischen ihren Kindern und dem anderen Geschlecht hinauszögern. Trotz der verhinderten Liebe bewältigt Rapunzel das Leben in der Wüste und kann dann letztendlich vom Königssohn, trotz seiner Blindheit gefunden werden.
Am Schluss des Märchens steht, dass die Liebe und die Freudentränen von Rapunzel wie Lebenswasser dem geliebten Menschen eine neue Sicht auf das Leben ermöglichen, was sich auch gut auf das reale Leben übertragen lässt.

„Wir sind versucht zu sagen, dass diese Erfahrungen weit über das hinausgehen, was sechs- und siebenjährige Kinder verstehen können. Und doch zeigt es sich immer wieder, dass sie dieses Märchen wünschen und gern hören, vielleicht wie eine Ahnung dessen, was das Leben ihnen bringen und abverlangen wird. Das Märchen schafft Zuversicht und spricht Mut zu, in einer Situation des Gefangenseins auf eigene Kräfte und Einfälle zu vertrauen. Wer „singt“, findet einen Partner, findet ihn wieder; wer den Hilflosen liebevoll umarmt, öffnet Augen, so dass das Königreich gefunden wird, ein Bild für den reifen Menschen. Mit diesen Andeutungen ist das Märchen natürlich nicht ausgeschöpft, das soll und kann es auch nicht. Die Märchen sind nie eindeutig, sondern immer vieldeutig und unausdeutbar. Das macht sie so wert- und wirkungsvoll.“

Ein weiteres angemessenes Märchen für diese Alterststufe wäre auch „Das Meerhäschen“ (KHM 191).








7.4 Märchen für die dritte und vierte Klasse

Als Beispiel für eine geeignete Schullektüre für Kinder im Alter von acht bis zehn Jahren soll das Märchen „Der Eisenhans“ dienen, welches in den KHM der Brüder Grimm unter der Nummer 136 oder hier in dieser Arbeit im Anhang nachzulesen ist.

Dieses Märchen spricht trotz seiner enormen Länge die kindliche Seele der Dritt- und Viertklässler an. Bereits der spannende Beginn bewirkt, dass die Kinder das Märchen interessiert verfolgen.
Die Situation in der Erzählung ist vergleichbar mit den zunehmend kritischen Erlebnissen und Erfahrungen der Kinder daheim in ihrem Elternhaus. In die geordnete Welt des Königs bricht das Unheimliche, Geheimnisvolle und Unbekannte herein.
Bei den Brüdern Grimm wird der Wilde eingesperrt. Während die Mutter über den Schlüssel wacht, bestimmt der Vater, dass der wilde Mann nicht befreit werden darf. Aber wie im realen Leben gilt auch im Märchen, dass das Verbot gebrochen wird, da nur so Entwicklung, Wachstum und Selbstständigkeit ermöglicht werden können. Jedes Kind hat schon die Erfahrung gemacht den Eltern nicht gefolgt zu haben und sich danach wie verlassen in einem Wald zu fühlen und von wilden Kräften zu schwer einzuhaltenden Geboten gezwungen zu sein. Ein erneutes Versagen führt einen hinaus in die Welt.
„Goldene Haare“ lassen sich allerdings nicht so einfach verbergen. Das Gold in den Haaren des Jungen wird im Märchen mit der Sonne in Verbindung gebracht. Die Sonne steht als Symbol für das Licht, das uns erhellt und damit neue Erkenntnisse ermöglicht. Dies ist im Zusammenhang mit der Redewendung „mir geht ein Licht auf“ zusehen.
Für Kinder ist es ein Trost zu erkennen, dass sie zwar durch das Übertreten von Geboten ins Ungewisse gestoßen und in die Welt getrieben werden, ihnen dennoch auch Hilfe zugesagt wird. Das Kind wird nun nicht mehr von den Eltern behütet, sondern muss in der Welt seine eigenen Erfahrungen machen.
Auch der Königssohn wird im Märchen aus seiner behüteten Umgebung herausgerissen und muss lernen sich gegenüber niederen sowie höher gestellten Personen am Hofe und gegenüber dem anderen Geschlecht, der Prinzessin, behaupten zu können. Nachdem er sich schließlich mit Hilfe des „wilden Mannes“ bewährt hat, gibt er sich zu erkennen und verlangt was ihm zusteht, nämlich die Hand der Prinzessin.
Es bleibt nun die Frage, was und wer denn der „Eisenhans“ eigentlich sei. Man könnte vermuten, dass dem Jungen im Eisenhans sein eigenes Ich begegnet, welches zunächst chaotisch und wild ist, welches den kristallklaren Goldbrunnen kennt, welches sich bemüht und versagt, dient, bittet und schenkt und letztendlich sich selbst befreit und entfaltet und seine innere Qualitäten seine Schätze, offenbart und gewinnt.
Diesem langen aber auch sehr spannenden Märchen gelingt es die wildesten Kinder zu zähmen, während es zapplige Zuhörer beruhigt und schüchterne ermutigt.

Ein anderes Märchen bei dem es den Acht- bis Zehnjährigen Kindern leicht fällt sich mit den vorkommenden Figuren zu identifizieren ist „Die zertanzten Schuhe“ (KHM 133).







8. Das Kunstmärchen

Neben dem mündlich überlieferten und der Unterhaltung und Belehrung dienenden Volksmärchen existiert das Kunstmärchen, welches in der Hochdichtung einzuordnen ist und sich dadurch auszeichnet, dass es in der Schicht der Gebildeten vorherrschend ist. Das Kunstmärchen ist eine Individualdichtung, da es aus den traditionellen Volksmärchen Motive aufgreift und in die eigene Dichtung integriert.
Im Gegensatz gibt es jedoch auch Kunstmärchen, die von den Brüdern Grimm zu traditionellen Volksmärchen umgearbeitet wurden. Auf diese Weise konnten zum Beispiel Kunstmärchen von Phil. Otto Runge, Johann Heinrich Jung-Stilling und Clemens Brentano in die KHM der Brüder Grimm aufgenommen werden.
Der Beginn der Kunstmärchendichtung liegt im Zeitalter der Romantik. Für die Romantiker war das Volksmärchen die vollkommene Verkörperung einer ursprünglichen Dichtung. Sie sammelten und edierten Märchen und führten das Kunstmärchen zur Blüte.
Mit Johann Karl August Musäus’ „Volksmährchen der Deutschen“ (1782-1787) und Christoph Martin Wielands’ Sammlung „Dschinnistan“ von 1789 sind Kunstmärchen entstanden, in denen auf ironische Weise Märchen- und Sagenmotive verarbeitet und nach belieben neu verwendet werden.
Unter Wielands Hand ist des Weiteren auch die umfangreiche Sammlung „ Cabinet des Fees“ entstanden, die bereits 1785 erschienen ist und von der französischen Mode der „Feenmärchen“ beeinflusst wurde. Wieland schrieb jedoch vorwiegend Kunstmärchen mit orientalischem Einfluss, was sich vor allem in der Sammlung „1001 Nacht“ deutlich wiederspiegelt.
Ludwig Tiecks schrieb Kunstmärchen, die als romantisch intendierte und parodistische Märchendichtungen einzuordnen sind. Die Romantiker Ludwig Tiecks und Novalis ließen sich bei ihren Werken von Goethes „Märchen“ (in den „Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten“, 1795) beeinflussen und begründeten schließlich eine Tradition des Kunstmärchens. Diese Tradition wurde während des weiteren 19. Jahrhundert gepflegt und ist bei Autoren wie Bettina von Arnim, Clemens Brentano, E.T.A. Hoffmann, Gottfried Keller oder Eduard Mörike in unterschiedlichsten Konstellationen wieder zu finden, wobei häufig die Künstlerproblematik, Erscheinungen des Unerklärlichen, des Gespenstischen oder des Wunderbaren oder philosophische Botschaften im Vordergrund stehen.
Goethes Werk „Märchen“ kann allgemein als Prototyp des romantischen Kunstmärchens gesehen werden, da traditionelle Märchenmotive adaptiert und dann kreativ zu einer bedeutungsschweren Handlung umgebaut werden.













9. Schluss

Vor der intensiven Beschäftigung mit diesem Thema waren Märchen für mich lediglich das, was sie wohl für die meisten Kinder und Erwachsene sind, nämlich unterhaltsame Geschichten.
Als kleines Kind konnte ich von den zahlreichen Geschichten nicht genug bekommen, da ich mir selbst immer gewünscht hatte eine Prinzessin zu sein oder von einem schönen Prinzen wie in „Aschenputtel“ zu solcher gemacht zu werden. Später, als mir bewusst wurde, dass diese Märchen nicht der Wirklichkeit entsprechen und lediglich erfunden sind, nahm ich die Bücher nur noch zur Hand um meinen Nachbarskindern daraus vorzulesen. Die tiefere Beschäftigung mit dem Thema Märchen konnte allerdings erneut meine Begeisterung wecken und war nicht nur sehr interessant sondern auch schön, da ich meine Märchenbücher diesmal nach neuen Aspekten untersuchen konnte.
Für mein späteres Berufsleben als Grundschullehrerin konnte mir vor allem der Gliederungspunkt 9 „Das Märchen in der Grundschule anhand ausgewählter Beispiele“ viele Ideen und Anregungen vermitteln.

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